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Aufrecht gehn, den Himmel sehn

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11. Dezember

Der Adventskalender

 

     Paula fand ihn auf dem Dachboden, kurz bevor der November zu Ende gegangen war: Den alten, leicht muffig riechenden Adventskalender ihrer Kindheit. Der Glimmer auf der Vorderseite, war längst fort – abgegriffen, weil sie in Kindertagen die Türen aus Pappe wohl unzählige Male geöffnet hatte, um sich die bunten Bilder anzuschauen, die sich dahinter verbargen. Wie hatte sie ihre Freundinnen beneidet, weil deren Kalender immer mit kleinen Stücken aus Schokolade gefüllt waren. Und bei ihr nur die immer gleichen Bildchen mit pausbackigen Engeln, Sternen und dem alten Bischof Nikolaus, dessen Konterfei sich am 6. Dezember zeigte. Paula überlegte, warum sie das antiquierte Teil überhaupt aufbewahrt hatte, statt es beizeiten wegzuwerfen.

 

     „Ich wollte ihn Nina zeigen, wenn sie alt genug ist, um vorsichtig damit umzugehen“, sagte sie zu sich selbst. Nina, ihre kleine Tochter, die nun schon zwei Jahre nicht mehr bei ihr war. Kurz vor dem Fest hatte sie jemand angefahren und statt sich um das verletzte Kind zu kümmern, hatte er oder sie Fahrerflucht begangen. Paula wusste noch jedes Detail von dem Tag, an dem die Polizei vor ihrer Tür gestanden hatte. Was die junge Polizistin gesagt und dass man ihr einen fremden Priester als Seelsorger mit ins Haus gebracht hatte. Dass sie mitten im Flur zusammengebrochen war und die Beamtin ihr einen Kamillentee gekocht hatte. Bis heute musste sie würgen, wenn etwas den Geruch von Kamille verströmte.

     An die Wochen und Monate danach erinnerte sie sich hingegen kaum. Alles blieb hinter einer Nebelwand verborgen, wenn sie überlegte, wie sie den Tag von Ninas Beerdigung verbracht hatte. Aber irgendwie war es wohl gegangen und was brachte es schon, sich daran zu erinnern? Das machte Nina nicht wieder lebendig. Den Fahrer hatte man nie gefunden, auch wenn an Ninas Fahrrad deutliche Lackspuren gewesen waren. Vermutlich war er nicht aus der Stadt und nur auf der Durchreise gewesen, als er die Achtjährige übersehen hatte, die von einer Freundin kam und nach Hause wollte. Nina jedenfalls hatte diesen Kalender nie zu Gesicht bekommen. Eine der vielen vertanen Gelegenheiten, die man später bereute. Nun brauchte Paula das Ding nicht mehr. Nina war das einzige Kind gewesen und ihr Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, bevor sie starb.

     „Dann werde ich das Ding mal wegschmeißen!“ Paula sprach viel mit sich selbst. Das war auch nötig, damit sie ihre Stimme nicht verlor. Sie verließ die Wohnung nur selten und hatte sich gegen die Außenwelt abgeschottet, seit sie allein war. Sie nahm die Pappe und trug sie hinunter, um sie ins Altpapier zu werfen. Ihre Wohnung war sauber und ordentlich. Kein Wunder, verbrachte sie doch ihre Tage damit, jedem Staubkorn hinterher zu jagen. Als sie aber den Kalender auf die Tageszeitung vom Vortag legen wollte, hatte sie plötzlich ein feines Klingeln im Ohr. Sie sah sich um, konnte aber den Ursprung des Tons nicht ergründen. Er verstummte, solange sie die Pappe in Händen hielt und begann, wenn sie sie ablegen wollte. Es war, als wolle jemand sie daran hindern, den Kalender fortzuwerfen. Deshalb entschied sie sich, ihn vorsichtig mit einem Tuch feucht abzuwischen und lehnte ihn an die Wand in der Küche. Vielleicht musste sie die Türen in diesem Advent noch einmal öffnen und ihn dann Ende Dezember vernichten. Irgendetwas sagte ihr, dass sie das tun sollte.

 

     Der 1. Dezember kam und sie saß morgens allein am Frühstückstisch. Gedeckt hatte sie wie immer für zwei. Das zweite Gedeck blieb ungenutzt, doch sie spülte es trotzdem jeden Morgen. Dass der Dezember schon begonnen hatte, war Paula nicht klar und so ignorierte sie die Pappe, wie in den vergangenen Tagen. Plötzlich jedoch hörte sie wieder das leise Klingeln. Ob das ein Tinnitus war? Sie würde sich nicht wundern, wenn ihr Körper sich gegen die Vernachlässigung der Vergangenheit wehrte. Aber vielleicht war es ja wirklich der Kalender. Paula nahm ihn zur Hand, und fuhr mit den Fingernägeln an der perforierten Pappe entlang. Sie wusste noch genau, wo sich die Tür für den ersten Dezember befand. Dann knickte sie das Türchen auf und erwartete, eine winzige Eisenbahn zu sehen, die sich in ihrer Kindheit dahinter versteckt hatte. Doch was sie sah, ließ ihr Herz erstarren und Paula hielt den Atem an. Sie sah Ninas kleines, hübsches Kindergesicht, das ihr aus dem Karree entgegenstrahlte, als säße das Kind selbst in dem Kalender. Das Klingeln war verstummt und Paula hörte nur ihren stoßweisen Atem. Mit den Fingerspitzen fuhr sie über die Zeichnung und es war ihr, als fühle sie ein winziges Pochen darunter. Sie drehte die Pappe in ihren Händen hin und her, konnte aber keine weiteren Besonderheiten entdecken. Das lange Alleinsein begann wohl, sie verrückt zu machen. Anders konnte sie es sich nicht erklären. Sie presste die Augen fest zusammen und als sie sie erneut öffnete, sah sie die Lokomotive, die durch das Miniaturbild zu fahren schien. Ninas Gesicht war verschwunden. Paula ließ den Kopf auf die Arme sinken und weinte haltlos. Es dauerte Stunden, ehe sie sich halbwegs beruhigt hatte.

 

     Am nächsten Morgen konnte sie es kaum erwarten, was sie hinter dem Türchen finden würde. Erst dachte sie, dass wohl am Vortag die Fantasie mit ihr durchgegangen war, denn sie sah nicht Ninas Gesicht, sondern einen winzigen Tannenbaum, mit leuchtenden Kerzen und Kugeln hinter der Papptür. Also etwas durchaus Typisches für diese Art von Kalender.          "Früher war da eine Puppe“, hörte sie sich sagen. Und beim zweiten Blick erkannte sie, dass es sich um eine der Zeichnungen handelte, die Nina aus Kindergartenzeiten in ihrem Zimmer aufbewahrt hatte. Als sie tot war, hatte Paula das Zimmer fest verschlossen und es nicht mehr betreten. Nun aber sprang sie auf, rannte zur Tür und drehte hektisch den Schlüssel im Schloss. Sie riss die Vorhänge auf, sodass es im Zimmer hell wurde und zog an der Schreibtischschublade, in der sie die Mappe vermutete. Und richtig: Sie fand den Tannenbaum, der genau so aussah, wie das kleine Bild aus dem Kalender. Doch es war wie am Tag zuvor. Als sie in die Küche zurückkehrte, um die Bilder zu vergleichen, sah sie eine kleine Puppe mit lustigen Zöpfen. Vom Tannenbaum keine Spur.

Das waren doch für sie Botschaften, oder wurde sie jetzt vollends verrückt? Sie zog und knibbelte an dem Türchen des kommenden Tages, doch es ließ sich nicht öffnen. Nicht einmal, als sie mit der Messerspitze darunter fahren wollte, um Gewalt anzuwenden. Sie würde sich bis zum nächsten Tag gedulden müssen.

 

     In den folgenden Tagen wurde das Öffnen der Türen zu einem Ritual, so wie früher, als Paula mit der Mutter zum Kalender ging, und die Türen öffnete, obwohl sie den Inhalt längst auswendig kannte. Das war nun anders. Zwar erschienen nach der Botschaft des Tages die Bilder ihrer Kindheit, doch was davor erschien, war das, was Paula interessierte, auch wenn sie den Sinn nicht verstand. Paula erschienen die Bilder zusammenhanglos. An einem Tag sah sie die kindliche Zeichnung eines Unbekannten, der eine Hakennase hatte, dann wieder erschien das Markenzeichen eines Autos. Bilder aus dem Leben von Paula und Nina oder Dinge, die das Kind besonders geliebt hatte, wie zum Beispiel einen Teller voller Spaghetti oder ihre Freundin, bei der sie am Todestag zum Spielen gewesen war. Der Dezember war nun schon halb rum und auch, wenn Paula den Morgen stets kaum abwarten konnte, war sie in ihren Überlegungen noch keinen Schritt weiter.

 

     An diesem Morgen öffnete sie bereits die sechzehnte Tür und sah nichts anderes, als ein grünglänzendes Feld, das sich unter den Fingern ganz glatt und kalte anfühlte. Und mit einem Mal verstand Paula, was das alles zu bedeuten hatte. Vor ihren Augen erschien der metallicgrüne Lack des Fahrzeugs, das Nina angefahren hatte. Es musste einfach so sein. Die Tochter hatte diesen Weg gesucht, um der Mutter zu sagen, wer sie das Leben gekostet hatte und warum. Gut, dass Paula sich zu den Türchen Notizen gemacht hatte, obwohl sich die Bilder ebenso in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten, wie die des echten Kalenders aus Kinderzeiten.

Am nächsten Tag sah sie ein blinkendes Handy, dann wieder eine Uhr mit dem Zeitpunkt von Ninas Tod. Eine Autonummer sah Paula am zwanzigsten und eine  in einem Bilderrätsel verborgene Adresse am Tag vor dem Heiligen Abend. Schützenstraße 7. Das Haus musste sich in der Nachbarstadt befinden. Eine Schützenstraße gab es hier nicht. Paula beschloss, sich auf den Weg zu machen. Zwei Jahre waren vergangenen, ehe sie das erste Mal den Bus nahm, bevor sie sich dann zur Beobachtung vor dem Haus in der Schützenstraße 7 auf die Lauer legte. Sie stand lange dort und fror erbärmlich, denn der Dezember war in diesem Jahr nass und kalt. Als sie fast aufgeben und am nächsten Tag zurückkehren wollte, bog ein metallicgrüner Audi um die Ecke und kam vor dem Haus zum Stehen. Ein abgemagert wirkender Mann um die Vierzig stieg aus. Er hatte eine Hakennase. Das Kennzeichen des Fahrzeugs musste Paula nicht abgleichen. Sie wusste, dass es stimmte, doch sie warf trotzdem einen Blick darauf.

     Paula überquerte die Straße und trat zu dem Mann, der umständlich Mantel und Aktenkoffer vom Rücksitz genommen hatte und ihr nun direkt gegenüber stand.

     „Sie haben meine Tochter Nina totgefahren!“ Mehr sagte sie nicht. Der Mann blickte sie verstört an, sank dann aber in sich zusammen.

     „Woher wissen Sie das?“, fragte er, leugnete es aber nicht.

     „Sie hat es mir gesagt. Sie haben Zeit, sich selbst anzuzeigen. Höre ich bis morgen nichts von der Polizei, übernehme ich das für Sie.“ Sie hatte sich nicht darauf vorbereitet, was sie ihm hatte sagen wollen. Und sie hoffte, dass es nicht dazu kommen würde, dass sie selbst den Beamten erklären musste, vorher sie ihr Wissen hatte.

     „Es tut mir leid!“, erklärte der Mann.

     „Mir auch!“, antwortete Paula. Mit seiner Schuld musste er ebenso allein zurechtkommen, wie Paula mit ihrer Trauer.

     „Ich habe zwei Kinder!“, versuchte er, sie milde zu stimmen. „Und morgen ist Heiligabend.“ Als würde das irgendetwas bedeuten.

     „Ich habe kein Kind mehr und ich weiß, dass morgen Heiligabend ist!“ Paula wandte sich ab. Sie hatte getan, was sie tun musste. Sie würde nach Hause zurückkehren.

 

     Am Heiligen Abend war noch einmal ein Bild von Nina zu sehen. Diesmal war es nicht starr, sondern bewegte sich. Die Tochter warf der Mutter eine Kusshand zu, so wie früher, wenn sie zum Spielen verabredet war und sie auf dem Fahrrad davon fuhr. Paula warf eine Kusshand zurück, auch wenn dabei ein paar Tränen über ihre Wangen liefen. Als es an der Tür läutete, sah man hinter der Vierundzwanzig das Kind in der Krippe. Von Nina keine Spur.

 

Paula öffnete und ließ die Polizei in die Wohnung. Man würde ihr sagen, dass der Todesfahrer sich gestellt hatte. Da gab es für Paula keinen Zweifel. 

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